
Die Nachricht, meine Freundin Heike sei ins Koma gefallen, erschüttert mich tief. Ähnlich wie der Notarzt denke ich, es kann nicht sein, dass eine 39-jährige einen Schlaganfall erleidet. Die Tage des Komas dauern an. Ich warte. Ich bange. Greife zu meiner Form, der Seele einen Raum zu geben und beginne Tagebuch zu schreiben. Für „die andere Heike“. Die Tage und Momente, die sie im Koma liegt, ersetze ich ihr mit Sätzen aus meinem Leben. Schenke ihr ein wenig der verloren gegangen Zeit zurück. Es sind zunächst Briefe, lange, lange Briefe. Meine Seele beruhigt sich. Heikes Körper entlässt sie aus der gefangenen Stille. In meiner Erinnerung ist es so, dass ich von der anderen Heike ein schönes Tagebuch geschenkt bekomme. Eine stumme, eindrückliche Aufforderung, ihr weiter zu schreiben. Ich werde sie mal fragen, ob das wirklich so gewesen ist.
Mir macht das tägliche Schreiben mehr als Freude. Endlich habe ich eine Grund:Muse, die so stark motiviert, dass ich 15 Jahre durchschreibe, Tag für Tag. Es macht mich glücklich, für mich selber Tagebuch zu schreiben, genauso wie es mich glücklich macht, dass eine andere mitliest. Es ist ein reduziertes Tagebuch, ich lasse Bereiche unberücksichtigt. Es ist eben kein Tagebuch, sondern ein geteiltes Buch. Leben, lieben, sterben, – die Jahre ziehen dahin, unaufhörlich mit meinen Worten unterspült. Je nach Heikes Gesundheits:Stand treffen wir uns 1-2 Mal im Jahr und dann redet sie! Sie ergänzt mit ihrem Leben und wir gehen beide, etwas überfüllt, aber im glücklichen Vollständigkeitsgefühl wieder auseinander. Mittlerweile haben Krankheiten Heikes Leben übernommen und unkalkulierbar gemacht. An Weihnachten 2018 kündigt sie mir das Tagebuchschreiben. Die Wucht meiner Worte sei zu schwer und drückend geworden. Der Freiraum in ihrem Leben soll still und leicht sein. Mir ist es, als hätte mir jemand die Nabelschnur ohne Ankündigung durchgeschnitten. Ich falle. Bis ich ein paar Wochen später bei WordPress reinfalle. Um zu gesunden von dem Abschied beschließe ich, ein Jahr lang täglich einen Post zu veröffentlichen. Einen Gedanken, einen Impuls. Nie viel. Nie alles. Immer etwas Wichtiges. Mit einem weinenden und einem zwinkernden Auge.
Die 200 Tagebücher liegen in Kisten auf dem Speicher. Überfordert stehe ich vor dieser Flut aus Worten und Heften. Wohin damit? Für die Familie? Eher nicht, zu nah. Tagebuchmuseum München? Nicht bedeutend genug. Der Funke: ich frage eine andere Freundin, ob sie Erbin meiner erzählt-aufgeschriebenen Jahre werden möchte. Sie entrümpelt gerade und bittet um Bedenkzeit. Während Daniela nachdenkt, archiviere ich alles, beklebe hübsche Schachteln. Spüre ein wenig Erleichterung darüber, dass es nun nicht noch mehr Kisten werden. Zwischendurch erwäge ich die Anmietung eines Lagerraums. Dann sagt Daniela ja! Mein Scheib:Projekt ist versorgt und beheimatet.
Mein erster Post:
nabel:ketten:schnüre aus worten
gefühle auf papier gebannt für mich für dich
4000 tage entlang geschrieben
heute setzt du den durch:schnitt an
mein füller harrt der silben und das blatt starrt mich wortlos an
bin allein und wortlos wo werden meinen worte neue heimat finden?
statt langer tagebuch:sätze schreibe ich diamant:wörter. Es tut wohl, sie zu teilen.